Gedanken zum Corona-Sommer in Schweden

Nach einem verregneten und nasskalten Winter und Frühjahr hat sich endlich der kurze skandinavische Sommer in seiner vollen Pracht angemeldet. Das depressive Grau der letzen Monate ist verschwunden. Die Natur ist ergrünt. Bei angenehmen 20 °C und Schäfchenwolken am Himmel entschied ich mich vorgestern für einen kleinen Waldlauf vor der Haustür. Das in Schweden auch vor Corona verbreitete Homeoffice, womit das Arbeiten von Zuhause gemeint ist, erlaubt es immer mehr Menschen sich diesen Luxus ab und zu auch unter der Woche zu gönnen, wenn das Wetter ausnahmsweise dazu einlädt.

Einsame Parklandschaft vor der Haustür. Die geringe Bevölkerungsdichte Schwedens macht es möglich.
Typische schwedische Wohngegend. Genug Platz um in Coronazeiten Abstand halten zu können. Bewohnt sind diese Häuser überwiegend von alleinstehenden Ehepaaren oder Familien mit Kindern. Es ist in Schweden unüblich, dass sich mehrere Generationen ein Haus teilen.

Ich wohne in einer von Wald und Wiesen umgebenen kleinen Siedlung. Sie als Dorf zu bezeichnen würde falsche Assoziationen wecken. Ihre 400 Einwohner wohnen fast ausschließlich in einstöckigen Einfamilienhäusern mit großen Gartengrundstücken, die überwiegend im Einheitsstil  gehalten sind und in der Fertigbauweise aus Holz in den 1970er Jahren entstanden sind. Die lockere Bebauung auf dem leicht hügeligen Gelände ist durch Gärten und Waldflächen unterbrochen, die durch beleuchtete Fahrrad- und Fußwege miteinander verbunden sind und einen Zugang zu den kaum befahrenen Sackgassen erlauben. Im Sommer ist es manchmal wie im Paradies. Meine Joggingstrecke fängt direkt hinter dem Haus an, führt ein Stück über eine gemeindeeigene Wiese, geht dann durch ein Wäldchen einen Fahrradweg entlang, der direkt zum Minigolfplatz führt, das auch chinesisches Essen anbietet. Von dort geht es weiter in den Wald entlang der Skilanglaufstrecke, die im Winter beleuchtet ist. Nach 40 Minuten komme ich zurück. Getroffen habe in dieser Zeit keine Menschenseele und das Ansteckungsrisiko war mit oder ohne Schutzmaske gleich Null. Trotzdem gehen einem  beim Jogging die Gedanken zu Corona durch den Kopf.

Wegen Corona halten sich meine Frau und ich von Menschen fern. Zwei Meter Abstand halten die meisten ein. Einkaufen gehe ich nur mit einer FFP-Schutzmaske zu Zeiten mit geringen Besucherzahlen in den frühen Morgenstunden. Offenbar bin ich der einzige, der in Schweden eine Maske trägt, wie es die WHO inzwischen empfiehlt, da ich bereits mit über 60 zur Risikogruppe gehöre. Schutzmasken sind knapp in Schweden. Deshalb hat man der Bevölkerung das Tragen von Schutzmasken mit viel journalistischem Geschick ausgeredet, da sie angeblich eine falsche Sicherheit bieten würden und in Südostasien wäre angeblich das Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit nur ein Akt der Höflichkeit. Allerdings wurde nicht die Frage beantwortet, warum weltweit medizinisches Personal Schutzmasken in verschiedenen Ausführungen je nach Einsatzzweck einsetzt? Und warum besitzt Finnland ein riesiges Lager mit Millionen von Schutzmasken für den Katastrophenfall, um seine gesamte Bevölkerung schützen zu können?

Als die WHO endlich das Tragen von Schutzmasken empfahl, machte der manchmal zum Volksheld erhobene schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell vor einigen Tagen die Aussage, dass das Tragen von Schutzmasken nicht zur schwedischen Strategie gehöre. Vor ein paar Wochen hieß es noch es gäbe keine ausreichenden wissenschaftliche Beweise zur Schutzwirkung von Masken. Man würde sich nun auf das Testen, Aufspüren und Isolieren konzentrieren. Am Anfang der Krise wurde allerdings auf das umfangreiche Testen verzichtet, da nur Menschen mit Symptomen ansteckend seien. Zudem würde das Testen nur ganz am Anfang einer Epidemie sinnvoll sein. Das deutsche Verhalten wurde sogar damals kritisiert und als unwissenschaftlich bezeichnet. Nach schwedischer Vorstellung sind symptomfreie Patienten immer noch  nicht ansteckend. Inzwischen ist es jedoch wissenschaftlich erwiesen, dass man die ersten zwei Tage vor dem ersten Auftreten der Symptome ansteckend ist und danach noch einige Tage. Während fast überall Einreisende aus China und anderen Risikogebieten für zwei Wochen in Quarantänte gesetzt wurden, reichte es den Schweden deshalb aus einen Fragebogen bei der Einreise auszufüllen, weil man lieber an die bequemere Wahrheit glaubte. Für das Messen von Fieber würden die Kapazitäten nicht ausreichen. Das Schließen von Grenzen ergäbe nach der schwedischen Vorstellung überhaupt keinen Sinn, da sich dann die Reisende andere Wegen suchen würden, die schwerer zu kontrollieren wären. Norwegen und Dänemark haben ihren gemeinsamen Grenzverkehr geöffnet. Die Grenze zu Schweden bleibt geschlossen. Schweden sind in Norwegen und Dänemark nicht willkommen. Schweden fühlt sich diskriminiert. Inzwischen hat die schwedische Bevölkerung auch schön brav gelernt, dass Schutzmasken nach kurzer Zeit angeblich durchnässt seien und somit völlig wirkungslos seien.

Bis jetzt verstehe ich die schwedische Strategie immer noch nicht, welche bei einer Bevölkerung von 10 Millionen Einwohnern zu fast über 4500 Toten geführt hatte. Dies macht Schweden zu einem Hochrisikogebiet. Angeblich gehören die hohen Todesraten zur Strategie, um eine Herdenimmunität zu erreichen, bei der 60 bis 70% der Bevölkerung infiziert sein müssten. Davon ist man noch weit entfernt. Ob das Ziel erreichbar ist, ist fragwürdig, da niemand weiß, wie lange die Immunität besteht. Bei MERS und SARS-1 sind es zwei bis drei Jahre.

Schweden ist für eine weltoffene Gesellschaft. Das Schließen von Grenzen widerspricht der vorherrschenden ideologischen Denkweise. Viel zu spät wurden die Direktflüge aus dem Iran eingestellt. SAS stellte freiwillig seine Flüge von und nach China ein, während mit China Air Direktflüge von China nach Stockholm immer noch mehrmals die Woche stattfanden.

Das Problem mit den knappen Schutzmasken und den fehlenden Schutzanzügen wurde immer prekärer. Eine Krankenhausleitung ordnete an beim Umgang mit Coronapatienten nur Visiere zu tragen und darauf zu achten, dass die Oberarme unbedeckt sind. Prompt meldete sich ein Arbeitsrechtler und ermahnte alle Arbeitgeber dazu dafür Sorge zu tragen die Arbeitsschutzregeln einzuhalten. Ein Verweigerung von Schutzmaßnahmen stellt eine Straftat dar und kann für den Arbeitgeber sogar Gefängnis ohne Bewährung bedeuten.

Die schwedische Behörde für die Sicherheit am Arbeitsplatz sah das anders und verbot Pflegekräften in Altersheimen das Tragen von Schutzmasken.  Sie widersprach damit der Gesundheitsbehörde. Im internen E-Mailverkehr kam als Begründung heraus unangenehme Diskussionen über Schutzmasken vermeiden zu wollen. Gefängnis wird den Staatsbediensteten  wohl nicht drohen, da Olof Palme in 1970er Jahren die juristische Verantwortung für Staatsbedienstete abgeschafft hatte. Diese Regelung hat bis heute Gültigkeit. Sie hat dazu geführt, dass sich alle verantwortlich fühlen sollen, wodurch sich in der Praxis niemand verantwortlich fühlt. Im Zweifelsfall ist immer die andere Behörde oder die andere Abteilung zuständig. Man selbst habe nicht die nötigen Ressourcen und Kompetenzen. Dafür hat Schweden einen der höchsten Steuersätze auf der Welt.

Jedenfalls kam es zu eine Welle von tödlichen Infektionen in schwedischen Pflegeheimen. Den Betroffenen verweigerte man die Zufuhr von Sauerstoff aus der Flasche mit der Begründung das Personal sei dazu nicht ausgebildet. Ein Arzt bestätigte es seien genügend Sauerstoffflaschen vorhanden gewesen und jeder Laie könnte zwei Schläuche in die Nase stecken und den Hahn aufdrehen. Stattdessen gab es für die Patienten nur Schmerzmittel zur Erleichterung des des Ablebens. Wie soll man das nennen? Mord? Euthanasie? Auf jeden Fall ist es ein Skandal.

Und es ist ein Grund mehr sich gesund zu halten und sich nicht anzustecken. Wer sich ansteckt und die typischen Symptome für Corona zeigt soll mit Fieber und Reizhusten keinen Arzt aufsuchen und daheim bleiben. Dafür ist kein Attest mehr für den Arbeitgeber notwendig. Sollte schwere Atemnot auftreten, ist die 112 anzurufen, um den Krankenwagen zu bestellen. Falls die Sauerstoffwerte im Blut zu gering sind, wird eine stationäre Einweisung in Erwägung gezogen. Ansonsten muss man zusehen, wie man in Schweden über die Runden kommt. Lasst uns deshalb den kurzen schwedischen Sommer genießen. Was anderes bleibt uns auch nicht übrig, da viele Länder die Einreise aus Schweden immer noch verbieten oder verbieten werden, wenn das Risiko einer Ansteckung weiterhin auf hohem Niveau verbleibt, womit zu rechnen ist.

Restriktionen sind in Schweden kaum vorhanden. Die Schulen waren nur für die unteren Klassen geschlossen. Kindergärten waren ebenfalls nie geschlossen. In einer Gesellschaft mit einer besonders hohen Erwerbsquote unter Frauen, wäre es schwer gewesen Schulen und Kindergärten generell zu schließen.

Mehr als 50 Menschen dürfen sich nicht treffen. In Restaurants ist das Servieren nur am Tisch gestattet. Die übliche Selbstbedienung ist damit nicht mehr erlaubt. Alle Geschäfte und Friseure dürfen geöffnet haben. Dennoch braucht der Umsatz im Einzelhandel um bis zu 50% ein. Entlassungen im Dienstleistungsbereich waren die Folgen. Ein Pleitewelle droht. Reisen sollten sich als Empfehlung auf nicht mehr als zwei Autostunden beschränken.

Der schwedische Sonderweg hat weder die Wirtschaft entlastet noch die erhoffte Herdenimmunität erreicht. Stattdessen gab es viele unnötige Tote und Erkrankte zu beklagen. Überdurchschnittlich stark betroffen sind die Einwanderer.  Ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Die Zukunft von Schweden ist ungewiss.

Fazit: Schweden ist bis jetzt noch einmal glimpflich davongekommen. Die Ursachen dafür sind die geringe  Bevölkerungsdichte und der schwedische Lebensstil, der auf Distanz und Zurückhaltung beruht. Es ist unüblich, dass mehrere Generationen unter einem Dach leben. Auch ist es auf dem Land und in den Kleinstädten nicht üblich sich mal eben so mit Freunden auf eine Pizza oder ein Bier in der Kneipe zu treffen. Das macht man nicht und eine Kneipenkultur ist höchstens in den Großstädten vorhanden. Der Körperabstand ist allgemein größer als in den südlichen Ländern Europas. Auch ist das Schütteln der Hände unüblich.

Anders sieht es in den Plattenbausiedlungen der Vorstädte aus, die einen hohen Anteil von Migranten besitzen. Hier herrschen neben den beengten Wohnverhältnisse andere Kulturkreise vor, in denen ein intensiver Kontakt zwischen den Mitgliedern der  Großfamilien üblich ist. Oft fehlt es an ausreichenden Kenntnissen der Hygiene. Fehlende Kenntnisse der schwedischen Sprache führten zu einer Unkenntnis der Gefahrensituation und in der Folge zu einer überdurchschnittlichen Sterberate. Besonders betroffen waren Einwanderer aus Somalia, bei denen häufige Krankenbesuche und enger Körperkontakt zum Ausdruck der Anteilnahme und Fürsorge gehören.

Was hätte Schweden von Anfang an besser machen können? Es hätte sich z.B. an Südkorea orientieren können, das bereits zwei Ausbrüche mit mit MERS und SARS-1 erfolgreich bekämpfen konnte, ohne einen Lockdown anzuordnen. Sehenswert sind die nachfolgenden Interviews mit dem koreanischen Prof. Kim Woo-Joo, welcher fundiertes Grundlagenwissen über Covid-19 vermittelt:

Da sich die Viren in Clustern konzentriert verbreiten und sich nicht gleichförmig über die Bevölkerung verteilen, ist besonders am Anfang einer Epidemie oder Pandemie das sofortige Testen, Aufspüren und Isolieren die erfolgreichste Methode. Das  Tragen von Schutzmasken an Orten mit viel Kontakt zu fremden Menschen hilft die Ansteckungsgefahr zu mindern. Beides hat Schweden bewusst versäumt oder abgelehnt. Ein Lockdown als Notbremse war in Südkorea dank seines schnellen und konsequenten Handelns nicht notwendig. Die Wahrheit zu berichten ist besser als fadenscheinige Argumente zu verbreiten.

Weitere Quellen über Schwedens Umgang mit Covid-19 (englischer Untertitel einschaltbar):