Das schwedische Gesundheitssystem ist staatlich und entwickelt sich zu einer Katastrophe
Für viele Einwanderer aus Deutschland ist der erste Kontakt mit dem schwedischen Gesundheitsystem oft ein Schock, da sich der Patient nicht einfach mal so einen Arzt anrufen kann, um sich mal gründlich untersuchen zu lassen, wenn er sich nicht ganz wohl fühlt. Kein Thema wird unter deutschen Einwanderern kontroverser diskutiert als das schwedische Gesundheitssystem.
Wie schön ist das doch in Deutschland, wenn eine Unpässlichkeit plagt. Man ruft einfach seinen Hausarzt an und bekommt ohne Nachfragen einen Termin. Oder man geht gleich in das Wartezimmer der Sprechstunde, wo sich die Pensionäre regelmäßig auf einen Plausch mit alten Bekannten freuen. Die 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal wurde früher von einigen als Unverschämtheit empfunden. Heute ist der Gewöhnungseffekt eingetreten. Mich wundert jedenfalls nicht, dass Deutschland mit 18 Arztbesuchen pro Jahr und Patient einen Spitzenplatz einnimmt, während Schweden bei drei bis vier Arztbesuchen liegt. Wie kommt das? Sind die Schweden gesünder? Tatsächlich liegt die Lebenserwartung in Schweden ein paar Jahre über der in Deutschland. Aber das ist nicht die Ursache für die sparsamen Arztbesuche.
Vorderseite der European Health Insurance Card, welche von der schwedischen Versicherungskasse ausgestellt wurde. Mit dieser Karte werden Kosten für eine unbedingt medizinische Versorgung in allen EU/ESS-Staaten und der Schweiz übernommen. Dadurch zahlt der Patient nicht mehr als er in Schweden hätte bezahlen müssen. Wer diese Karte nicht hat, muss sich die Kosten nachträglich von der schwedischen Krankenversicherung bezahlen lassen und das Geld auslegen. Die Karte kann online unter http://www.forsakringskassan.se/privatpers/utomlands kostenlos bestellt werden. Nach ein paar Tagen ist sie im Briefkasten und hat ein paar Jahre Gültigkeit.
Rückseite der European Health Insurance Card.
Die staatliche Versicherung ist im Prinzip kostenlos: Um seine Krankenversicherung muss man sich übrigens nicht kümmern, denn alle in Schweden dauerhaft Wohnhaften (mindestens ein Jahr, ausgenommen ausländische Studenten und Rentner), die im Volksbuch mit einer Personnummer geführt sind, sind automatisch im staatlichen Gesundheitswesen krankenversichert. Das kostet übrigens keine einzige Öre, falls man kein Einkommen bezieht. Ein Einkommensbezieher braucht sich auch nicht um die Krankenversicherungsbeiträge zu kümmern. Diese werden automatisch im Zuge der Einkommensteuererklärung abgezogen, welche der Steuerzahler im günstigsten Fall per SMS bestätigt. So einfach ist das. Für Selbständige ist staatliche Krankenversicherung ebenfalls kostenlos, falls sie kein Einkommen beziehen.
Private Zusatzversicherung: Es gibt übrigens private Zusatzversicherungen, die kaum in Anspruch genommen werden. Meistens werden diese von den Firmen für ihre Angestellten angeboten. Diese Zusatzversicherungen versprechen eine kürzere Wartezeit auf einen Facharzt. Allerdings ist auch dafür eine Rücksprache mit der Zusatzversicherung notwendig. Das System funktioniert nur in den Großstädten, in denen es vielleicht privat niedergelassene Ärzte gibt, die zudem Zeit haben müssen, was eher unüblich ist. Ein Mehrklassen-System widersprich selbst der Einstellung der meisten bürgerlich-konservativ eingestellten Schweden.
Einwanderer sind ebenfalls meistens krankenversichert: Bei der Einwanderung geschieht die Anmeldung bei der staatlichen Krankenkasse automatisch oder eine kurze Mitteilung an die Krankenkasse reicht. Herrlich, wenn einem die Auswahl der richtigen Krankenkasse wie im deutschen Verwirrspiel der Tarife erspart bleibt. Alles erscheint einem so erfrischend unkompliziert und unbürokratisch im modernen Schweden. Da überkommt dem frischgebackenen Neuschweden ein ungewohntes Gefühl der Geborgenheit, wenn er stolz sein Personnummer auswendig lernt und seine Patientenkarte (patientkort) per Post zugeschickt bekommt.
Wer allerdings als Student eingewandert ist oder ohne Arbeit von eigenen Mitteln oder seiner Rente lebt, muss sich selbst versichern. Angehörige (Kinder, Ehefrau, Lebenspartner) sind meines Wissens in der Regel mitversichert, wenn ein Angehöriger als Selbständiger oder Arbeitnehmer in Schweden ein Einkommen bezieht. Es gibt allerdings Sonderfälle. Personen, die nicht im schwedischen Volksbuch geführt sind somit keine personnummer besitzen, sind keinesfalls durch das schwedische Krankenversicherungssystem versichert
Den Arzt anrufen: Und wie sieht es nun im wirklichen Alltag aus, wenn einem der Schnupfen plagt und der Arzt soll einem helfen? Dann rufe einfach das Krankenhaus an. Die Nummer steht in der Broschüre, die jedem neu Zugezogenen zugeschickt wird. Aber diese Nummern ändern sich oft, denn Schweden ist ja reformfreudig und da ändert sich immer alles sehr schnell. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass sich eine automatische Ansage meldet, die auf eine andere Nummer verweist. Alles wird natürlich auf Schwedisch angesagt. Spätenstens dann wird auch dem borniertesten Einwanderer klar: “Lerne Schwedisch oder stirb!”.
Auf der neuen Nummer meldet sich natürlich wieder eine automatische Ansage mit sehr erfrischend freundlicher Stimme, die mich auffordert meine eigene Nummer mit Vorwahl einzutippen. Dann erzählt mir die Automatenstimme, dass ich in etwa 10 Minuten zurückgerufen werde. Tatsächlich bekomme ich nach 10 Minuten einen Anruf vom Krankenhaus. Die Schweden sind im Vergleich zu den Deutschen, die ja auch den Ruf der Pünktlichkeit genießen, von Zeitplanung und Zeiteinteilung fast schon besessen. Inzwischen gibt es ein Webseite, auf der die eigene Telefonnummer eingetippt werden kann. Es erscheint darauf ein Hinweis, wann mit dem Rückruf zu rechnen ist.
Das schwedische Gesundheitswesen besitzt eine der höchsten Standards der Welt und versucht gleichzeitig kostensparend zu arbeiten. Unnötige Untersuchungen werden deshalb nach Möglichkeit vermieden. Untersucht wird zuerst das, was nach der Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit besonders gefährlich für die Gesundheit sein kann. So werden zum Beispiel Schmerzen in der Brust besonders ernst genommen ( Bildquelle: Melker Dahlstrand/imagebank.sweden.se ).
Am anderen Ende der Leitung befindet sich eine examinierte Krankenschwester mit Hochschulabschluss. Anders als in Deutschland sind diese auch im begrenzten Umfang zu Diagnosen befugt. So schnell kommt man also an einen Arzt nicht heran. Es sind noch einige Hürden zu überwinden, und wegen eines harmlosen Schnupfens oder einer normalen Erkältung gibt es keinen Arzttermin. Also muss man das Krankheitsbild der Krankenschwester genauer erklären und die riesigen Eitermengen beschreiben, die seit Wochen aus der Nase quellen. Auch hier erweist sich ein souveräner Umgang mit der schwedischen Sprache als vorteilhaft. Wenn die Krankenschwester des unklaren Befunds wegen meint, dass dies nach einer Neben- oder Stirnhöhlenentzündung aussieht, wird sie vielleicht ankündigen einen Arzt zu fragen, der meist um die Mittagszeit zu erreichen ist. Danach erfolgt dann tatsächlich der Rückruf der Krankenschwester. Mit etwas Glück bekommt man dann für den nächsten Tag einen Arzttermin. Je nach Fall und Verdacht kann der Leidende aber erst zur Blutprobe geschickt werden.
Die Ärzte sind im Krankenhaus untergebracht. Meins liegt 10 km entfernt. Wer in Nordschweden wohnt, muss dafür nicht selten mehr als 100 km anreisen. Das ist eben der Preis der Einsamkeit und der spottbilligen Häuser auf riesengroßen Grundstücken. Im Krankenhaus angekommen, führt der Weg zuerst zur Anmeldung. Nach Vorlage seiner Identifikationskarte wird man zur Kasse gebeten, denn jeder Arztbesuch kostet umgerechnet 15 bis 35 Euro. Dies ist wieder von Län zu Län und Jahr zu Jahr verschieden. Erst nach der Zahlung erfährt der Patient sein zuständiges Wartezimmer.
Dank der schwedischen Pünktlichkeit holt der Arzt seinen Patienten meistens auf die Minute genau im Wartezimmer ab. Länger als 10 Minuten habe ich noch nie warten müssen. In Deutschland verstreicht ein Arzttermin durchschnittlich nach 8 Minuten. In Schweden nimmt sich der Arzt aber etwa 15 Minuten Zeit. Es ist also geschafft mit dem Arzttermin.
Wie finde ich die Internetseite, um einen Telefontermin mit dem Krankenhaus auszumachen? Das ist die erste Hürde. Dazu muss ich erst einmal wissen, in welchem Län (Regierungsbezirk) ich wohne, denn das Landsting des jeweiligen Län ist für das Gesundheitswesen zuständig. Da ich in Östergötland wohne, gebe ich in Google landstinget i Östergötland ein. Dann finde ich an erster Stelle die Seite von www.lio.se. Darunter gibt es einen Link zu Vårdcentraler. Dort wähle ich unter der Liste „Hitta vårdcentral i listan“ meine Stadt aus. Das wäre in meinem Fall „Finspång“. Dann auf den Knopf „Gå till“ drücken, der sich unterhalb der Liste befindet. Es erscheint eine neue Seite, auf deren rechter Spalte gibt es einen Knopf „Bokning av telefontid“, der mich zu einer neuen Seite führt, in der ich meine Telefonnummer eingeben kann (,wenn ich in Finspång wohne):
http://www.lio.se/Verksamheter/Narsjukvarden-i-Finspang/Tidbokning-av-telefontid/
Meine zuständige Seite würde ich gleich unter den Favoriten abspeichern, um mir die Sucherei beim nächsten Mal zu sparen. Nach dem absenden der eigenen Telefonnummer wird mir dann mitgeteilt, wann ich etwa angerufen werde. Meisten geschieht dies innerhalb einer halben Stunde. Für andere vårdcentralen geht es sicherlich ähnlich.
Landesweite Telefonnummer 1177: Landesweit kann auch die Nummer 1177 angerufen werden, um sich beraten zu lassen oder einen Termin mit dem Krankenhaus auszumachen Die Nummer habe ich aber noch nicht ausprobiert. Ich weiß auch nicht, was passiert, wenn man kein Schwedisch kann.
Auf der Seite http://www.1177.se/ findet man ebenfalls recht schnell die Telefonnummern der gewünschten vårdcentral. Dort sind auch gleich die Lagepläne zu finden. Es ist schon verwirrend trotz oder gerade wegen der vielen gut gemeinten Internetauftritte.
Es gibt also zwei landesweite Telefonnummern, um Hilfe in Schweden zu bekommen:
Akuter Notfall (Notruf für Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr): 112
Telefonischer Rat und Auskünfte im Krankheitsfall, Arztermin ausmachen: 1177
Krank in Schweden als ausländischer Tourist: Wäre ich ausländischer Tourist in Schweden, würde ich im akuten Krankheitsfall einfach zum nächsten Krankenhaus fahren und mich bei der Anmeldung vorstellen. Dann wird einem schon weitergeholfen. In den Städten sind die Wege zu den Krankenhäusern immer durch ein rotes Kreuz ausgezeichnet. Ist man als EU-Bürger krankenversichert, hat man meines Wissens auch automatisch eine Krankenversicherung für Schweden, die unbedingt notwendige Behandlungen abdeckt. In Notfällen jeder Art immer die 112 anrufen.
Das papierlose Rezept: Ein Rezept auf Papier gibt es übrigens nicht. Die Rezepte werden elektronisch gespeichert und in jeder Apotheke Schwedens können die Medikamente nach Vorlage seiner Identifikations-Karte (eine Art Personalausweis, ID-kort) gegen Bezahlung abgeholt werden. Falls man die Medikamente verbilligt bekommt, wird der „Rabatt“ automatisch abgezogen. Es spielt keine Rolle, ob die rezeptpflichtigen Medikamente auf einer staatlichen oder privaten Apotheke abgeholt werden.
Der Arzt ruft an oder schreibt einen Brief: In der weiteren Behandlung wird der Arzt oft selten von Angesicht zu Angesicht in Erscheinung treten. Per Brief fordert der Arzt einem zur Blutprobe oder zur Blutdruckmessung durch eine Krankenschwester auf. Zur weiteren Vorgehensweise ruft der Arzt einen an, was wieder per Brief angekündigt wird. Mein Arzt beklagte sich einmal, dass ich kein Handy hätte. Damit wäre doch alles viel einfacher, wenn ich jederzeit erreichbar wäre.
Karenztage im Krankheitsfall: Es gibt vielleicht noch einen Grund, warum der Schwede so selten zum Arzt geht. Wer sich vom Arzt krankschreiben lassen möchte, muss dies in Schweden erst nach einer Woche Fernbleiben von der Arbeit vornehmen lassen. In Deutschland ist dies bekanntlich nach drei Tagen zwingend notwendig. Andernfalls droht eine arbeitsrechtliche Abmahnung. Zu solchen Mitteln greift der auf ein gutes Betriebsklima Wert legende schwedische Arbeitgeber nicht. Dafür ist in Schweden der erste Krankheitstag unbezahlt und für die weiteren Tage gibt es nur 80% Lohnfortzahlung. In Deutschland würde man dies empört mit einer Teilkasko-Autoversicherung vergleichen. Die Schweden hingegen wundern sich nur, wenn es in anderen Ländern nicht so ist wie bei ihnen.
Hilf der erst einmal selbst: Abgesehen davon ist die schwedische Mentalität mehr auf Selbsthilfe ausgelegt, denn in der Einsamkeit und Ruhe der Natur blieb einem nichts anderes übrig, als erst einmal zum Schmerzmittel zu greifen. Das schwedische Allheilmittel lautet Alvedon, dessen Wirkstoff Paracetamol lautet. Erst wenn das nicht hilft, versucht man einen Arzttermin zu erlangen. Am Wochenende kann das ganz schön schwierig werden, denn da bleibt einem nur die Notaufnahme (akuten) übrig. Für einen gebrochenen Finger darf man sich dann auf Wartezeiten von 5 bis 7 Stunden einstellen.
Bleibt die Frage offen, ob die Schweden deshalb länger leben, weil sie weniger als die Deutschen zum Arzt gehen. Daran liegt es sicherlich nicht sondern eher an dem vergleichsweise geringen Tabak- und Alkoholkonsum der Schweden. In Deutschland kann ein Arztbesuch tatsächlich schon krank machen, denn der Gefahr sich im schwedischen Wartezimmer einen Schnupfen oder Husten zu holen, begegnet einem in Schweden eher selten. Bekanntlich verschwindet ein Schnupfen nach einer Woche Behandlung oder unbehandelt nach 7 Tagen. Das wissen schwedische und deutsche Ärzte, aber offenbar erst deutsche Patienten, wenn sie für jeden Arztgang zur Kasse gebeten werden würden.
So sieht die Vorderseite einer högkostnadskort aus. Auf ihr werden alle kostenpflichtigen Termine gesammelt. Hat der Patient etwa 1000 Kronen gesammelt (der Betrag ändert sich von Jahr zu Jahr), kann er für den Rest des Jahres eine frikort in Anspruch nehmen, wodurch keine weiteren Kosten entstehen. Wann das berechnete Jahr beginnt, darf der Patient selbst bestimmen.
Zusammenfassung: Als dauerhaft wohnhaft in Schweden gilt eine Person, welche im schwedischen Volksbuch geführt und damit eine personnummer besitzt. Zudem muss diese Person für mindesten ein Jahr vorhaben in Schweden zu leben. Dann ist diese Person automatisch krankversichert oder hat Anspruch auf die staatliche Krankenversicherung. Es ist im Einzahl bei der försäkringskassa nachzufragen, ob man Anspruch auf eine Krankenversicherung hat und ob man schon registriert ist. Ausgenommen von der staatlichen Krankenversicherung sind ausländische Studenten, Personen, die von eigenen Mitteln leben und Rentner, welche eine eigene Krankenversicherung nachweisen müssen.
Keine Familienversicherung notwendig: Es gibt keine Familienmitversicherung wie in Deutschland. Wer im staatlichen System krankenversichert ist und kein Einkommen besitzt, ist trotzdem versichert. Es gibt einen Eigenanteil für jeden Arztbesuch oder anderen Dienstleistungen wie zum Beispiel das Messen des Blutdrucks oder eine Blutuntersuchung. Diese liegt je nach Leistung und Län (Verwaltungsbezirk) zwischen etwa umgerechnet 10 und 35 Euro. Die Obergrenze innerhalb eines Jahres liegt bei etwa 110 Euro. Ist dieser Betrag überschritten, sind alle Leistungen für den Rest des Jahres frei. Eine ähnliche Regelung in ähnlicher höhe existiert für Medikamente. Wer krank ist, bekommt als Angestellter für den ersten Tag keine Lohnfortzahlung. Bei Selbständigen beträgt diese Karenzzeit eine oder zwei Wochen oder noch länger, wenn man weniger Krankenversicherung bezahlen möchte. Dann bekommen Angestellte oder Selbständige etwa 80% ihres Einkommens. Dies allerdings nur bis zu einem Jahr. Ob einem die Lohnfortzahlung zusteht, bestimmt nicht das ärztliche Attest alleine, sondern letztendlich die Auslegung der staatlichen Krankenversicherung (försäkringskassa), wobei Einzelschicksale immer wieder in Medien diskutiert werden, wenn zum Beispiel Patienten nach einer anstrengenden Krebsbehandlung gezwungen werden halbtags zu arbeiten.
CNN-Beitrag aus dem Jahre 2009 über das schwedische Gesundheitssystem aus us-amerikanischer Sicht. Interessant dazu sind auch die Kommentare in Youtube, denn hier prallen zwei verschiedene Welten aufeinander.
Am Wochenende krank: Man sollte nicht gerade am Wochenende krank werden, denn dann muss man in die Notaufnahme. Je nach Dringlichkeit kann die Wartezeit bis zu 10 Stunden oder länger dauern, wenn man zum Beispiel „nur“ einen gebrochenen Finger hat.
Andererseits bekam jemand wegen eines Verdachts auf einer Gürtelrose an Heilig Abend sofort einen Arzttermin. Die Wartezeit betrug gerade mal 5 Minuten. Bei einer Gürtelrose kommt es auf eine möglichst frühzeitige Diagnose und schnelle Behandlung mit Medikamenten an. Jede Minute zählt dann.
Es gibt Gegenden mit sehr guter medizinischer Versorgung. In Nachbarregionen kann es wieder ganz anders aussehen. Insbesondere ist Nordschweden medizinisch eher unterversorgt.
Operationen im Ausland verkürzen die Wartezeit: Auf bestimmte Operationen wie Bandscheibenoperation oder an den Gelenken der Gliedmaßen herrschen sehr lange Wartezeiten von zum Teile mehreren Jahren. Wer nicht so lange warten will, kann mit der försäkringskassa verhandeln, ob die Kosten für eine Operation im Ausland übernommen werden.
Kaum Wartezeiten im Wartezimmer: Hat man mal einen Termin erhalten, z.B. in 14 Tagen um 14:30, dann kann der Patient fast danach die Uhr stellen, dass er zum vereinbarten Termin an die Reihe kommt. Wartezeiten im Wartezimmer gibt es praktisch keine.
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Meine Ergänzungen aus der Sicht eines Patienten (Stand 2014): Das schwedische Gesundheitssystem mag in mancher Hinsicht für Menschen anderer Länder wie ein Paradies vorkommen. Jeder Schwede ist automatisch dank des staatlichen Gesundheitssystems versichert. Wer als Schwede nichts verdient, muss auch nichts in die ebenfalls staatliche Krankenversicherung einzahlen und ist dennoch versichert. Wer ein Einkommen besitzt, dem werden die Krankenversicherungsbeiträge automatisch im Zuge der Einkommenssteuererhebung abgezogen. Die Wahl der Krankenkasse entfällt ebenfalls, denn es gibt nur eine einzige. Sie nennt sich försäkringskassa oder abgekürzt f-kassa. Das System wirkt besonders für all jene, die neu in Schweden angekommen sind, so unerwartet unbürokratisch und somit sehr erfrischend. Es überkommt einem ein Gefühl der wohligen Geborgenheit vom Staat als gleichberechtigter Teil einer Gemeinschaft umsorgt zu sein.
Die schwedische vårdcentral als erste Anlaufstelle für Patienten: Streng genommen sind für das Gesundheitswesen die einzelnen Provinzen (län) verantwortlich. Derzeit ist Schweden in 21 Provinzen (län) aufgeteilt. Für meine Gesundheit ist das kommunale Krankenhaus meiner Gemeinde zuständig. Es hat wie fast alle Krankenhäuser eine Abteilung, die sich auf Schwedisch vårdcentral nennt. Am ehesten entspricht diese Abteilung der deutschen Vorstellung eines Ärztehauses oder eines medizinischen Behandlungszentrums, wie sie in der DDR als Polikliniken jedem bekannt waren. Dort erhalten Patienten ihre allgemeinärztliche Behandlung und diese vårdcentral ist auch die erste Anlaufstelle bei medizinischen Problemen. Solche Krankenbehandlungszentren sind meistens in öffentlicher Hand. Im Großraum Stockholm werden inzwischen etwas mehr als die Hälfte der Krankenpflegezentren als Unternehmen geführt. Privat niedergelassene Hausärzte sind so gut wie unbekannt. Im Prinzip ist die Wahl des Krankenpflegezentrums frei. Auf dem Land sind sie allerdings dünn gesät. Ich habe noch Glück, denn mein Krankenhaus ist nur 10 km entfernt. Nicht wenige aus meiner Gegend müssen über 40 km bis zum nächsten Arzt zurücklegen. Das ist der Preis für viel Ruhe und Natur. Wenn ich also krank bin, muss ich mich an die vårdcentral dieses Krankenhauses wenden. Die Suche nach einer Alternative bleibt mir auf jeden Fall erspart, weil es diese Auswahlmöglichkeit für mich überhaupt nicht gibt.
Einen Arzttermin zu bekommen ist oft nicht so einfach: Einen Arzttermin auszumachen geht zumindest in der Theorie eigentlich ganz einfach. Dies kann der Leidende zum Beispiel telefonisch erledigen, womit allerdings in der Praxis des real existierenden Schwedens das eigentliche Drama seinen Anfang nehmen kann. Ganz konkret war es bei mir das Problem die Telefonnummer auf der Homepage meines Krankenhauses überhaupt zu finden, nachdem dieser Webauftritt wieder einmal zur Erhöhung der Patientenzufriedenheit modernisiert und damit komplett umgestaltet worden ist. Nach einer Weile ist es mir dann doch gelungen die ersehnte Nummer zu finden. Also wählte ich diese Nummer und wie zu erwarten, ertönte eine automatische Ansage, die genau erklärte, welche Ziffer ich für welchen Fall eintippen sollte. Hier ist Geduld angesagt und wer in der schwedischen Sprache nicht sattelfest ist, hat eigentlich keine Chance, denn die oft undeutlich und schnell gesprochene Telefonstimme ist nur von Fortgeschrittenen zu verstehen. Als ich dann endlich die richtige Ziffer eintippen durfte, ertönte eine sehr freundliche Stimme, die mir erklärte, dass zurzeit leider alle Leitungen besetzt seien, und ich es später nochmals probieren sollte. Das habe ich dann auch gemacht, wobei jedes Mal dieselbe Vertröstung ertönte. Beim dritten Mal gab ich auf, da diese Prozedur anfing meinen Blutdruck etwas zu strapazieren. Und das ist bekanntlich nicht gesund. Deshalb entschloss ich mich meine Strategie zu ändern, um einen Termin über das Internet auszumachen. Telefonieren wollte ich jetzt nicht mehr, denn wenn ich mal so richtig in Fahrt bin, werde ich ironisch und mit Ironie erreicht man in Schweden nichts. Ironie wird nicht verstanden und läuft ins Leere. In diesem Punkt verhalte ich mich manchmal noch viel zu typisch deutsch.
Für den Fall der Fälle hatte ich mir schon vor langer Zeit die Adresse einer bestimmten Webseite abgespeichert, weil diese so unglaublich praktisch ist. Dort tippt der Patient seine Telefonnummer ein und dann erscheint der Hinweis, wann der Rückruf voraussichtlich erfolgen wird. Meistens erfolgt dies innerhalb einer Stunde. Noch besser ist es gleich seine Personnummer zusätzlich einzutippen, denn dann hat der Herr oder die Dame am anderen Ende der Leitung gleich Einblick in meine Krankenakte und somit in meine ganze Leidensgeschichte. Zu meinem Verdruss war diese Webseite, welche ich immer als Rettungsanker in der Not ansah, einfach nicht mehr vorhanden. „Die Seite kann nicht gefunden werden.“ war alles, was der Computer meldete. Irgendwie war das nicht mein Tag, dachte ich. Natürlich gibt es noch den Notruf 112 für den Notfall, der aber hier nicht eingetroffen ist, denn das Ausmachen eines Arzttermins ist normalerweise noch kein Notfall, auch wenn sich dieses Unterfangen manchmal zu einer gewissen Dramatik steigern kann. Also machte ich mich wieder an die Arbeit den neuen Webauftritt des Krankenhauses zu durchforsten und die Erleichterung war groß, endlich wieder in gewohnter Weise meine Telefonnummer und meine Personnummer eintippen zu können.
Diese Personnummer gibt ja den Behörden und vielen Firmen zu erkennen, dass ich in Schweden überhaupt existiere. Ohne diese Personnummer ist es zum Beispiel fast unmöglich einen Mobilfunkvertrag oder einen Festnetzanschluss zu erhalten. Nur wer eine Personnummer besitzt, ist auch durch den Staat versichert. Jeder Schwede liebt seine Personnummer, denn es ist besser eine Nummer zu sein als ein Nichts. Diese Personnummer ermöglicht auch das papierlose Rezept. Gegen Vorlage meines Ausweises erhalte ich in jeder schwedischen Apotheke meine rezeptpflichtigen Medikamente, denn alle Apotheken sind an ein Computernetz angeschlossen. Nur der Tierarzt schreibt seine Rezepte noch von Hand aus, weil Tiere keine Personnummern besitzen.
Nach der Eingabe meiner Daten meldet also die Webseite, dass ich in einer Stunde zurückgerufen werde. Dann habe ich ja noch genügend Zeit mich auf das Gespräch vorzubereiten, war mein erster Gedanke. Es gilt nun sich darauf vorzubereiten sachkundige Argumente in einem etwas besorgten Tonfall vorzutragen, wobei eine leichte Untertreibung und eine gewisse gespielte Sorglosigkeit beim Vortragen der Symptome die Glaubwürdig erhöhen kann, ich hätte mich nicht vorbereitete, um den ersehnten Arzttermin ergattern zu können. Sehr hilfreich dabei sind neben Wikipedia die offiziellen medizinischen Ratgeberseiten auf www.1177.se. Sie beschreiben genau jene Symptome, die das Gegenüber hören möchte, und wie lange man diese schon haben muss, damit das schwedische Gesundheitssystem darauf anspringt und einen Arzttermin als notwendig erachtet. Und darauf ist die Krankenschwester am Telefon geschult. Für fast alles gibt es nämlich eine Regel, die besagt, wie wann was nach welcher Dringlichkeit behandelt werden muss. Das schwedische Gesundheitssystem setzt Prioritäten, die darüber entscheiden, ab wann zum Beispiel Kopfschmerzen nicht mehr mit Schmerztabletten behandelt werden, sondern den Ursachen auf den Grund gegangen werden muss. Diese Vorgehensweise soll Kosten sparen, unnötige Behandlungen und Untersuchungen vermeiden. Es sollen nur Behandlungsmethoden, die auch wissenschaftlich begründet sind zum Einsatz kommen. Die Alternativmedizin ist somit ausgeschlossen, wenn die wissenschaftliche Beweiskraft fehlt. In der Theorie hört sich das alles sehr vernünftig an. Jedoch wir der Mensch nicht mehr als Ganzheit verstanden, sondern durch das interne Verrechnungssystem in seine Einzelsymptome aufgespaltet. Der Beruf des Heilpraktikers ist unbekannt. Es gibt jedoch den Chiropraktiker als Ausbildungsberuf. Hingegen gibt es Schmerzmittel in fast jedem Lebensmittelladen zu kaufen. Im Privatfernsehen laufen regelmäßig Werbespots für rezeptfreie Schmerzmittel. Wer das Gesundheitssystem am eigenen Leibe erlebt hat, weiß warum.
Wer übrigens zurückruft, ist eine examinierte Krankenschwester mit einem zweijährigen Hochschulstudium, die auf Grund des Gesprächs entscheidet, ob der Patient überhaupt einen Arzttermin erhält und wenn ja, wann. Sie stellt die erste Hürde dar. Es ist zum Beispiel sinnlos wegen vorübergehender Rückenschmerzen anzurufen. Die Empfehlung wird in der Regel lauten es erst einmal für einige Wochen mit Schmerzmitteln zu probieren. Eigentlich ist das auch richtig, denn die meisten Rückenschmerzen verschwinden durch körperliche Bewegung, welche Schmerzmittel fördern können. Im Gegensatz zu Deutschland sind in Schweden viele Präparate nicht einmal apothekenpflichtig sondern in den Postfilialen erhältlich. Massagen werden bei Rückenschmerzen auch gerne empfohlen, die selbstverständlich in voller Höhe selbst zu zahlen sind. Erst wenn die Schmerzen über viele Wochen anhalten und man glaubhaft erklärt schon fast alles probiert zu haben, besteht die Chance in einigen Tagen oder in einer Woche einen Arzttermin zu ergattern. Auch besteht keine Chance wegen Schnupfen, Husten und Heiserkeit gleich einen Arzttermin zu bekommen. Patienten mit ansteckenden Krankheiten sollen in den Wartesälen auch nicht andere Patienten anstecken. Niemand in Schweden käme auf die Idee wegen einer banalen Erkältung einen Arzt aufzusuchen. Hausbesuche gibt es überhaupt nicht. Wenn es ganz schlimm ist, dann ist über die 112 der Notruf anzurufen.
Je nach Fall und Auslastung des Krankenhauses kann es auch mal ganz schnell mit dem Arzttermin gehen. An einem Heilig Abend rief ich das Krankenhaus wegen des Verdachts einer Gürtelrose an, was ich glaubhaft beschreiben konnte. Ich wurde gebeten sofort zu kommen und ohne die geringste Wartezeit untersuchte mich ein Arzt, der mir mit seinem polnischen Akzent zu meiner richtigen Diagnose gratulierte. Bei einer Gürtelrose zählt nämlich jede Stunde. Je früher die medikamentöse Behandlung eingeleitet wird, desto milderer ist der Krankheitsverlauf. Es ist immer gut als Patient eine vorläufige Diagnose selber stellen zu können.
Der typisch schwedische Gesundheitsbetrieb am Beispiel einer Leistenbruchoperation: Eine Leistenbruchoperation ist eine der häufigsten Operationen beim Mann und dieses Schicksal widerfuhr auch mir, und zwar gleich zu allem Überdruss auf beiden Seiten. Diese Erfahrung ist ein schönes Beispiel, wie das schwedische Gesundheitssystem funktioniert. Nachdem sich drei verschiedene Ärzte unabhängig voneinander davon überzeugt hatten, dass ich wirklich einen Leistenbruch hatte, der auch von einem Laien nicht zu übersehen ist, war es schon nach zwei Monaten endlich so weit und ich durfte zur Operation antreten, die zum Glück nur 10 km von meinem Wohnort in meinem für mich zuständigen Krankenhaus stattfand.
Es war die erste Operation meines Lebens und entsprechend sichtlich aufgeregt war ich. Doch alle waren sehr lieb und nett zu mir. Die Narkoseschwester begleitete mich mit ihrem betäubenden Charme in den Operationssaal. Dort empfahl sie mir von etwas zu träumen, was ich mir wünschte und schon war ich entrückt. Mein sehnlichster Wunsch war wieder Aufzuwachen und so geschah es dann auch in der Aufwachstation. Dort wurde ich sogleich von einer der hübschen Krankenschwester angelächelt mit der Frage, ob ich denn schon Hunger hätte. Das hatte ich auch. Mir wurde wunschgemäß Kaffee mit Milch und Zucker und belegte Brötchen ans Bett serviert. Wenn man noch halb betäubt ist, lässt man sich ja umso lieber bemuttern. Hier fühlt man sich nicht als Patient, sondern als Mensch behandelt, dem eine Warmherzlichkeit und aufrichtige Freundlichkeit begegnet, die weit von der sonst üblichen professionellen Höflichkeit entfernt ist. Das freundliche Duzen in Schweden als die in allen Situationen selbstverständliche Anredeform leistet dazu seinen zusätzlichen Beitrag ein Wir-Gefühl zu unterstreichen. Vielleicht liegt es noch an den Nachwirkungen der Betäubung, dass solche Situationen an die großen Sehnsüchte der Schweden erinnern, die sich alle Einwohner ihres Landes wieder als eine große Familie wünschen.
Als die Betäubung nachließ, stellte sich ein Phänomen ein, dass sehr wohl die Krankenschwestern kannten, mir als Patient jedoch noch völlig unbekannt war. Meine Blase war zum Platzen voll und bat mit fürchterlichen Schmerzen um Entleerung, doch durch die Betäubung funktionierte dies trotz größter Willensanstrengung nicht. „Es muss wohl an der Hitzewelle liegen.“ wurde gewitzelt. Es war übrigens ein sonniger Junitag mit 23 °C im Schatten. Das Schöne an der schwedischen Kultur ist, dass Blasen- und Darmentleerungen als die natürlichste Sache der Welt angesehen werden und dass darüber ohne Umschweife und Umschreibungen gesprochen werden darf. Nachdem ein elektronisches Gerät sich von dem überhöhten Füllstand meiner Blase überzeugt hatte, begann der weniger angenehme Teil meines ersten Krankenhausaufenthalts in Schweden. Mir wurde von weiblicher Hand mit routiniertem Griff ein Blasenkatheter in des Mannes edelsten Teil gerammt, was nach einem kurzen und intensiv stechenden Schmerz sogleich mit einem unglaublichen Gefühl der Entspannung belohnt wurde. Irgendwann stellte ich mir die Frage, wie die zupackenden Krankenschwestern in so einem Fall mit männlichen Patienten umgehen, die aus einem eher traditionell-konservativen Kulturkreis entsprungen sind?
Endlich durfte ich noch am selben Tag nach Hause. Vorher überreichte mir eine Krankenschwester für jeden Tag fein säuberlich abgepackte Schmerztabletten und Verbandsmaterial ohne die dringende Bitte zu vergessen, ich sollte heute Abend auf jeden Fall vor 20:00 Uhr versuchen auf die Toilette zu gehen. „Warum denn das?“, fragte ich. „Ja, die Notaufnahme ist hier wegen der Haushaltseinsparungen nur bis 21:00 Uhr offen. Danach musst Du die nächste Notaufnahme aufsuchen, die 50 km entfernt liegt“. Wenigstens bekam ich für diesen Notfall eine besondere Telefonnummer übereicht und einen ganz dicken Vermerk in meiner Krankenakte, dass es mir wirklich dringlich ist, wenn ich nicht kann, aber unbedingt muss. Es hat dann in den heimischen Gefilden übrigens dann doch noch rechtzeitig geklappt. Daheim kann man sich doch am besten entspannen. Zum Glück musste ich nicht selber nach Hause fahren. Die Taxikosten werden bis auf einen fixen Selbstkostenanteil in der Höhe von etwa 10 Euro vom Staat übernommen.
Meine zweite Leistenbruchoperation verlief nicht so glatt und drohte den schwedischen Gesundheitsbetrieb an seine Belastungsgrenze zu treiben. Nach der Narkose wachte ich mit einem dicken Druckverband auf, weil sich ein großes Hämatom gebildet hatte. Eigentlich wäre in so einem Fall eine Drainage angebracht, was ein paar Übernachtungen im Krankenhaus rechtfertigen würde. Aber das kostet ja Geld und bedeutet für die chronisch überlasteten Mitarbeiter einen zusätzlichen Aufwand, der nicht den Planvorgaben entspricht. Also wurde ich ein paar Stunden nach meinem Aufwachen aus der Narkose mit dem Taxi nach Hause geschickt.
Ein paar Wochen später wurde dieser Bluterguss größer und auf mein Drängen schaute sich eine mir unbekannte Ärztin die Wunde an und meinte, dass so ein Hämatom erst nach einigen Monaten verschwindet und außerdem könnte dies auch das Operationsergebnis beeinflussen. Die letztere Aussage hatte ich erst einmal verdrängt. Aber diese Lösungsstrategie half natürlich nicht. Ein paar Tage später riss die Narbe auf und die Operationswunde fing sehr stark an zu bluten, weil sich eine Blutblase geöffnet hatte. Noch hielt ich dies nicht für einen Notfall und bat wieder um medizinische Hilfe. Eine Stunde musste ich auf den Rückruf warten. Am Telefon wurde ich mit einem weiteren Rückruf vertröstet, obwohl ich die Lage recht nervös als akut erklärte. Leider ohne Erfolg. Nach über einer Stunde erfolgte immer noch kein Rückruf. Ich fing dann an das Blut selber herauszudrücken, das ich mit viel Haushaltspapier aufsammelte, während meine Frau so nett war und in die 12 km entfernte Apotheke fuhr, um Verbandmaterial und Desinfektionsmittel zu besorgen. Nach der Prozedur war dann wenigstens die seit Wochen nervende Schwellung von der Größe eines Hühnereis verschwunden. Danach rief ich dann nicht mehr das Krankenhaus an, denn davon hatte ich ja vorerst genug, sondern die landesweite Servicenummer 1177 für eine kostenlose Gesundheitsberatung. Ich wollte wenigstens wissen, ob ich alles richtig gemacht hatte. Dies wurde mir dann zu meiner Erleichterung bestätigt, jedoch wurde mein ironischer Witzelei, ich sei ein Heimwerker, der versucht alles selber zu reparieren, nicht verstanden. In dieser Stresssituation fiel ich wieder in mein typisch deutsches Verhaltensmuster zurück und vergaß, dass Ironie in Schweden auf taube Ohren stößt. Ich bekam stattdessen ein dickes und ehrlich gemeintes Lob dafür, wie wir die Situation gemeistert haben. Ich müsste doch jetzt froh sein, dass ich meine Blutblase endlich losgeworden bin, bekam ich zu hören. Ich glaube sie hätte uns noch am liebsten dafür auf die Schulter geklopft. Allerdings gab die Krankenschwester am Telefon zu erkennen, dass das Verhalten meines Krankenhauses etwas merkwürdig war.
Selbsthilfe ist aber dennoch ein wichtiger Eckpfeiler der schwedischen Gesundheitspolitik, dessen Fundament hauptsächlich auf der Einnahme von Schmerzmitteln beruht. Das ist in gewisser Hinsicht auch verständlich. Wer in der Abgeschiedenheit wohnt, muss bis zum nächsten Arzt vielleicht oft mehr als 100 km zurücklegen. Kein Wunder also, dass nach meiner Operation zum Beispiel kein weiterer Arztbesuch zur Kontrolle vorgesehen war. Den Verband musste ich selbstverständlich selbst wechseln.
Das System krankt daran, dass die Vergütung der Krankenhäuser für neue Fälle besonders hoch ist, für unerwartete Nachbehandlungen aber die Kostenerstattung eher gering ausfällt. Außerdem sind ständig wechselnde Mitarbeiter am Telefon, welche über das Wohl und Wehe des Patienten entscheiden und dabei keine Zeit haben sich in deinen Fall einzuarbeiten. Dies macht das System ineffizient. Zum besonderen Nachteil wird dieses System für Menschen, die auf Grund ihrer Bildung, ihrer sprachlichen Heimat oder ihres Alters ihre Symptome und ihr Krankheitsbild nicht treffend und prägnant beschreiben können. Die besonders Leidtragenden dieses Systems sind an Demenz erkrankte Menschen in Altersheimen, welche keine Unterstützung durch Verwandte oder Angehörige erhalten, weil diese einfach fehlen. Das ständig wechselnde und unter Zeitdruck stehende Pflegepersonal übersieht die Leiden und Nöte der Gebrechlichen.
Viele verschiedene Ärzte führen zu falschen Diagnosen: Nur etwas über die Hälfte Schweden bejahen in einer Umfrage die Frage, ob sie an ihrem Krankenbehandlungszentrum einem festen Arzt zugewiesen sind, der seine Patienten kennt. Die meisten Behandlungszentren haben neben dem fest angestellten Pflegepersonal auch noch Ärzte angemietet. Möchte ein Patient kurzfristig einen Arzttermin erhalten, hat der sonst dafür zuständige Arzt leider keine Zeit, da er oft für Wochen ausgebucht ist. Der Krankenschwester am Telefon bleibt dann oft nichts anderes übrig als einen solchen eingemieteten Arzt zu wählen, der aus Zeitmangel sich nicht die Mühe machen kann sich in die Krankenakten einzuarbeiten. Die Folge sind Fehlentscheidungen und Fehlbehandlungen. Viele Ärzte sind über diesen Zustand beunruhigt und befürchten selbst eines Tages eine fatale Fehlentscheidung zu treffen.
An manchen Orten sind diese eingemieteten Ärzte leider die Regel. Im nordschwedischen Sundsvall klagte laut eines Berichts der schwedischen Fernsehanstalt SVT eine Patientin unter Atmschwierigkeiten. Im Laufe der Zeit erfuhr sie eine Behandlung mit drei verschiedenen Nasensprays durch drei verschiedene Ärzte. Der vierte Arzt entschied sich die Lunge zu röntgen. Auf der Aufnahme war ein Schatten in der Lunge zu erkennen und der Arzt empfahl eine weitere Beobachtung. Nachdem die Patientin begann unter ernsthafter Atemnot zu leiden, fuhr die Tochter der Patienten mit ihr in die Notaufnahme, wo sie eine Computertomografie erhielt. Die Diagnose lautete Lungenkrebs. Leider sei auf Grund der Metastasen eine Behandlung nicht mehr möglich, was bei rechtzeitiger Behandlung möglich gewesen wäre.
Eine andere Patientin aus Umeå hatte nach ihrer Operation am Gehirn im Zuge der Nachbehandlung im Laufe eines Jahres mit 27 verschiedenen Ärzten Kontakt. Da jeder Arzt andere Medikamente verschrieb, entwickelte sich bei der Patientin eine Medikamentenvergiftung.
Vorsorgeuntersuchungen und feste Arbeitsabläufe als Stressvermeidungsstrategie: Es wäre falsch zu glauben, der schwedische Gesundheitsbetrieb würde sich nicht um seine Patienten kümmern. Die meisten Krankenschwestern und Ärzte üben ihren Beruf mit viel Idealismus aus. Eines Tages flatterte wieder ein unerwarteter Brief von meiner vårdcentral in den Briefkasten. Ohne eine Begründung wurde ich gebeten mich in einem Monat unter Angabe des auf die Minute genau angegebenen Termins zu einer ärztlichen Untersuchung im Krankenhaus einzufinden, was ich natürlich befolgte, denn so eine Gelegenheit, die fast schon an eine Einberufung zur Musterung erinnert, lässt man sich nicht entgehen. Dabei war ich mir keiner Schuld bewusst und fühlte mich gesund.
Umgerechnet 16 Euro musste ich dafür an der Kasse des Krankenhauses bezahlen. Die Wartezeit im Wartezimmer betrug die üblichen fünf Minuten. Obwohl ich beteuerte, dass ich mich gesund fühlte und keine Probleme mit leichtem Ausdauersport habe, erhielt ich eine umfassende Untersuchung. Mein Arzt horchte Herz und Lunge ab. Er maß den Blutdruck. Schließlich ließ er ein EKG machen. Alles in Ordnung. Eine Warze am Rücke hatte er mir auf Nachfragen sogleich entfernt. Dann fragte er mich, ob im Zuge der Blutuntersuchung auch meine Prostatawerte untersucht werden sollten, was ich bejahte. Schließlich wurden mir für ein großes Blutbild neun Röhrchen Blut abgezapft. Die Urinprobe durfte auch nicht fehlen. Wenn nichts vorliegt, werde ich in den nächsten Wochen einen Brief über meinen Gesundheitsstatus erhalten. Ansonsten wird der Arzt mich anrufen, um die weitere Behandlung zu besprechen. Bevor er mich anruft, werde ich einen Brief erhalten, der besagt, wann genau ich angerufen werde.
Alles hat in Schweden seinen festen Ablauf nach einem Terminplan, an den sich alle zur richten haben. Eines Tages brach ein Mann in seiner eigenen Wohnung plötzlich zusammen. Darauf rannte seine Ehefrau über die Straße zur 50 m entfernt gelegenen Behandlungszentrum, um Hilfe zu holen. Der dortige Arzt erklärte ihr, das sei ein Notfall und sie solle in diesem Fall den Notruf 112 anrufen. Er sei dafür nicht zuständig. Später entschuldigte sich der Arzt für sein Verhalten, welches er mit einem „Black-Out“ erklärte.
Die allermeisten Schweden sind jedoch sehr hilfsbereit, wenn sie nicht unter Stress stehen und handeln spontan. Ich beobachtete einmal an einem wunderschönen Sommertag von der Außenterrasse eines Restaurants, wie ein Rollstuhlfahrer eine Rampe hochfuhr und dann nach hinten samt Rollstuhl umkippte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprangen einige Gäste von ihrem Tisch auf und halfen dem Rollstuhlfahrer. In der experimentellen Psychologie ist die Reaktionszeit auf eine Notsituation ein Maß für die Empathie. Hier hat sich bestätigt, dass die Schweden in der Regel sehr mitfühlende und hilfsbereite Menschen sind. Der Krankenwagen traf nach etwa 10 Minuten ein.
Nur wenn alles nach Plan läuft, das heißt, wenn der Patient nach einem virtuellen Terminplan erkrankt und wieder gesundet, dann funktioniert das System. Einmal vergaß ich den Termin einer Blutuntersuchung wahrzunehmen, was mit einer Art mütterlich fürsorglichen Standpauke telefonisch abgestraft wurde. Ist der Patient einmal in den Fängen des Gesundheitssystems, kommt er so schnell nicht mehr davon los.
Bei einem anderen Arzttermin erklärte ich, ich hätte seit vielen Jahren ab und zu leichte Brustschmerzen, die ich mich aber nicht beunruhigten, weil sie nicht während oder nach körperlicher Anstrengung auftreten, sondern einfach so manchmal vorhanden sind. Sogleich wurde das Herz abgehorcht. Dann wurde ein EKG vorgenommen, das ebenfalls keinen Befund zeigte. Ein paar Wochen später durfte ich mich für ein Leistungs-EKG auf dem Fahrrad abstrampeln. Auch dieses Mal wurde keine Ursache für meine Brustschmerzen gefunden. Dafür bescheinigte mir die Untersuchung, dass die Leistungsfähigkeit meine Herzens 30 % über den Durchschnitt meiner Altersgruppe liegen würde. Damit war die Behandlung nicht beendet. Einig Wochen später lag ich in einem Computertomographen, um mit Kontrastmittel meine Herzkranzgefäße genauer zu untersuchen. Und wieder war alles in Ordnung. Darüber habe ich mich natürlich sehr gefreut. Für meine Brustschmerzen habe ich inzwischen eine eigene Diagnose gestellt. Es meldet sich wohl die Speiseröhre, wenn ich zu viele Tassen Kaffee getrunken habe.
Der schwedische Sozialstaat bietet nur Teilkasko: Ein Arztbesuch ist übrigens nicht ganz umsonst für den Patienten. Abhängig von der jeweiligen Provinz kostet er zwischen umgerechnet 10 bis 20 Euro. Die Summe ist per Kontokarte direkt an der Rezeption des Krankenhauses zu bezahlen. Eine Blutuntersuchung kostet meistens um die 10 Euro. Der Eigenanteil für Facharztbesuche und Operationen schlagen für die Patienten mit ungefähr 35 Euro zu Buche. Eine Obergrenze von etwa 110 Euro im Verlaufe eines Jahres schützt den Patienten vor einer zu starken finanziellen Belastung. Eine ähnlich hohe Grenze gibt es für die Medikamente, welche ansonsten immer selbst zu zahlen sind. Zahnbehandlungen sind abgesehen von einem geringen Zuschuss immer selbst zu zahlen. Bis vor wenigen Jahren gab es überhaupt keinen Zuschuss. Nach einigen Jahren empfindet der Einwanderer das freundliche Lächeln mancher Schweden mit ihrer Preisgabe der Zahnlücken im Frontbereich als eine Selbstverständlichkeit. Man gewöhnt sich an vieles. Wer unter zwanzig ist, bekommt die Zahnbehandlung in voller Höhe erstattet. Danach nehmen es junge Menschen sehr genau mit ihrer Zahnhygiene. Viele Zahnärzte sind wie in Deutschland privat niedergelassen.
Eine Grippe kann übrigens ganz schön teuer werden. Der erste ausgefallene Arbeitstag gilt als Karenztag und erfährt keine Lohnfortzahlung. Die weiteren Krankheitstage werden nur zu 80 % vergütet. Abgesehen davon gibt es eine Obergrenze, von der die oberen Lohngruppen betroffen sind. Der von der Grippe Geplagte benötigt erst ab dem sechsten ausgefallenen Arbeitstag ein ärztliches Attest, das wieder einen kostenpflichtigen Arztbesuch mit sich zieht. Wer Pech hat, muss dann während der Krankheit mit 30% weniger Gehalt auskommen. Bei längeren Arbeitsausfällen entscheidet nicht das ärztliche Attest, ob die Lohnfortzahlung von der Versicherung übernommen wird, sondern die staatliche Versicherung (f-Kassa) selbst, ob nach den gesetzlichen Regelungen eine Lohnfortzahlung gerechtfertig ist. Es kann also vorkommen, dass der Patient von der staatlichen Versicherung aus heiterem Himmel einen Anruf mit den besten Genesungswünschen erfährt. Darüber sollte er sich aber nicht zu früh freuen. Hat sich ein Dachdecker zum Beispiel das Bein gebrochen, kann ihm vorgeschlagen werden, er könnte doch bis zur vollständigen Genesung Büroarbeiten bei seinem Arbeitgeber übernehmen. Andernfalls gibt es keine Lohnfortzahlung.
Kinder, die an ansteckenden Krankheiten erkrankt sind, dürfen nicht in die Schule oder in den Kindergarten. Dann muss in diesem Fall ein Elternteil daheim aufpassen und von der Arbeit fernbleiben. Meisten arbeiten beide Elternteile in Schweden. Die Kosten für die entgangene Arbeitszeit übernimmt in diesem Fall ebenfalls die Krankenversicherung. Dieses System wird gerne ausgenutzt, so dass die Kinder wegen des kleinsten Infekts zu Hause bleiben. Da Staat übernimmt ja die Kosten. Aber die Arbeit bleibt trotzdem liegen und die Büroarbeit erledigt das Elternteil über den heimischen Internetanschluss, obwohl dies nicht erlaubt wäre. So bekommt der Arbeitgeber die Arbeitsvergütung quasi von der Krankenversicherung bezahlt. Kinderreiche Eltern sind beliebte Arbeitnehmer und die klaren Gewinner des schwedischen Sozialstaats.
Selbständige Arbeitnehmer sind ebenfalls automatisch durch die staatliche Krankenversicherung abgedeckt. Sie erhalten im Krankheitsfall bis zu einem Jahr eine Einkommensfortzahlung in der Höhe von 80 % des durchschnittlichen Einkommens. Wenn der Selbständige mit der Krankenkasse keine andere Vereinbarung getroffen hat, beträgt die Karenzzeit 14 Tage.
Unterversorgung und lange Fahrtzeiten in Nordschweden: Wer in den dünn besiedelten Gegenden Nordschwedens wohnt, muss mit eher langen Wartezeiten auf einen Behandlungstermin rechnen. Bei einer Einwohnerdichte von einem Menschen pro Quadratkilometer ist zudem immer mit besonders langen Fahrtzeiten zu rechnen, die einem nicht erstattet werden, sofern man selbst fahren kann. Fachärzte befinden sich nur in den größeren Ortschaften. In einem Notfall kann die Romantik und Einsamkeit des Nordens schnell zum Albtraum werden, wenn der Krankenwagen mindestens eine halbe Stunde unterwegs ist. Bei schlechtem Wetter kann er vielleicht überhaupt nicht kommen. Die Versorgung mit Rettungshubschraubern ist nicht flächendeckend.
Es ist übrigens nicht immer sicher, ob ein Notruf auch als Notfall eingestuft wird. Der Fall eines jungen Mannes machte Schlagzeilen, weil er mehrfach wegen Atembeschwerden den Notruf anrief und um Hilfe bettelte, die ihm dann trotzdem verwehrt wurde. Er verstarb dann alleine in seiner Stockholmer Wohnung. Die Ursache war eine seltene Erkrankung an der Milz. Es kam dann zu einer Gerichtsverhandlung.
Lange Wartezeiten auf den Behandlungstermin, kurze Wartezeiten im Wartezimmer: Sowohl die schwedische Mentalität als auch das schwedische Gesundheitswesen haben Schwierigkeiten mit spontanen Zwischenfällen umzugehen. Alles muss zur Stressvermeidung in ein termingerechtes Korsett gezwängt werden, was manche Krankhäuser mit ihren Ablaufprozessen auf die Spitze treiben.
Ein Facharzttermin ist zum Beispiel nur durch die Überweisung eines anderen Arztes möglich. Die Wartezeiten können dann bis zu drei Monaten betragen. Hat man einmal einen Facharzttermin ergattert, geht es im Krankenhaus erst einmal wieder an die Kasse, um seinen Eigenanteil gegen Vorlage der Einladung zu entrichten. Auch hier gilt es den genauen Ablauf einzuhalten. Ein Mitteleuropäer würde sicherlich zielstrebig auf den Kassenschalter zustreben. Aber das wäre zu überstürzt. Damit das System bei zu starkem Andrang – also bei schon zwei bis drei Besuchern gleichzeitig – nicht in einem Zustand der Unübersichtlichkeit außer Kontrolle geraten kann, gilt es auch wieder den üblichen Nummernzettel zu ziehen, zu dem dann auch zu greifen ist, wenn überhaupt niemand sonst da ist. Wird die eigene Nummer angezeigt, ist der Weg frei für die Bezahlung. Erst dann geht es in den eigentlichen Wartesaal, in welchem man sich oft wieder mit einem weiteren Nummernzettel an der Rezeption anzumelden hat. Dafür sind die eigentlich Wartezeiten im Wartesaal meistens nie länger als 10 Minuten. Der perfekt abgestimmte und Wochen voraus ausgearbeitete Terminplan macht es möglich. Zudem sind diese Warteräume so gemütlich mit Sofas, Sesseln, Büchern Zimmerpflanzen und Zeitschriften ausgestattet, dass es richtig Spaß macht zu warten. Einmal durfte ich einen dieser kuscheligen Wartezimmer ein halbe Stunde lang genießen, bis mich die zuständige Ärztin abholte, wobei sie nicht vergaß sich tausendmal für die lange Wartezeit zu entschuldigen. Sie konnte nicht wissen, aus welchem Kulturkreis ich stammte, in dem Arztpraxen alle zwanzig Patienten um 14:00 bestellen, um sie dann der Reihe nach bis in den Abend abzuarbeiten.
Das schwedische Gesundheitssystem im Wechsel der Jahreszeiten: Zeitplanung ist eben fast alles in Schweden. Es sind auch die Jahreszeiten mit den schönen, aber kurzen nordischen Sommern und den langen, dunklen Wintern mit den wenigen Stunden Sonnenlicht am Tag, die den Rhythmus des Lebens bestimmen. Nun gibt es ein Gesetz in Schweden, dass jedem Angestellten das Recht auf Sommerferien gibt. Dies ist verständlich, denn der Sommer ist kurz. Abgesehen von den Monaten Juni, Juli und August herrscht überwiegend nur Schmuddelwetter und Tristesse in Schweden. Die Sommerferien sind für die Erholung dringend notwendig und wer eine Familie hat, möchte sie gemeinsam mit den Kindern und dem Partner auf dem Ferienhäuschen verbringen. Deshalb hat praktisch ganz Schweden im Sommer wegen Urlaub geschlossen. Krankenhäuser halten nur einen Notbetrieb aufrecht.
Die Hebammen wollen natürlich auch alle gleichzeitig in den Sommerurlaub. Und damit fängt ein Problem an, das durch eine entsprechende Zeitplanung hinsichtlich des richtig gewählten Zeitpunkts der Zeugung vermieden werden kann. Der Zeitpunkt der Geburt sollte nicht ausgerechnet in den Sommer fallen. Wer zur Entbindung muss, wird wegen des Mangels an Hebammen oft an das nächste oder übernächste Krankenhaus verwiesen, das dann vielleicht eine Autostunde entfernt liegt. Die Taxikosten übernimmt das Versicherungssystem. Dass ein neuer Schwede manchmal das Licht der Welt im Taxi erblickt, ist kein Einzelfall, aber leider oft eine verspätete Folge all zu sorgloser Spontaneität, jedenfalls für schwedische Verhältnisse.
Am Wochenende geht es in die Notaufnahme: Wer am Wochenende oder in den Nachtstunden dringend Hilfe benötigt, muss die Notaufnahme (akuten) aufsuchen. Die Wartezeiten sind auch hier wie in den meisten Ländern auf der Welt lang, wenn es sich nicht gerade um eine lebensbedrohliche Erkrankung handelt. Für die Behandlung eines gebrochenen Fingers vergehen dann von der Aufnahme bis zur Entlassung mindestens sechs Stunden. Dieses Wissen hält dann vielleicht einige Heimwerker davon ab unvorsichtig zu werkeln.
Unzumutbar lange Wartezeiten selbst für Krebspatienten: Die Wartezeiten auf Operationen sind oft sehr lange. Insbesondere stellt das lange Warten auf eine Operation an der Wirbelsäule oder an den Gelenken die meisten auf eine harte Probe. Oft wird verlangt es vorher mit Abnehmen oder gymnastischen Übungen zu versuchen. Viele ältere Schweden gehen auf Krücken oder tippeln mit einem Rollator durch die Gegend. Dieser Rollator oder auch Gehwagen ist eine schwedische Erfindung. Kein Wunder bei Wartezeiten von einem halben Jahr und länger.
Die Uhren ticken langsamer in Schweden. Die Bevölkerung ist geduldig. Lange Wartezeiten auf eine Operation werden trotzdem als lästig empfunden. Handelt es sich dabei um eine Krebsbehandlung, kann sich das Warten neben der starken psychischen Anspannung zu einer Qual mit Todesängsten entwickeln, wobei die Gefahr besteht, dass der Krebs Metastasen bildet. Während man auf die Ergebnisse einer Prostatabiopsie in Deutschland wenige Tage oder eine Woche warten muss, kann dies in Schweden über einen Monat dauern. Bis zur notwendigen Operation können dann durchaus noch einmal drei Monate vergehen. Während in Deutschland in der Regel spätestens nach drei Wochen der Eingriff erfolgt, verstreichen in Schweden insgesamt 4 Monate oder noch mehr. Und dies ist nicht nur bei Operationen an der Prostata der Fall, sondern eigentlich bei allen Krebsoperationen. In einem Fall musste ein älterer Patient über ein Jahr auf seine Hauptkrebsoperation warten. Eine junge Mutter mit mehreren kleinen Kindern ging es nicht viel besser und wartete drei Monate, bis endlich ihr Hautkrebs entfernt wurde, wobei sie durch Telefonterror massiven Druck ausüben musste. Solche Fälle machen in Schweden Schlagzeilen und führen regelmäßig zu öffentlichen Diskussionen über das Gesundheitssystem. Wie in einem Ritual beklagen die Politiker die unhaltbaren Zustände und versprechen Besserungen, wobei selten wirklich eine grundlegende Änderung eintritt.
Chronische Unterversorgung an Ärzten und Krankenschwestern: Schwedens Gesundheitsbetrieb leidet an Personalmangel, der besonders an den vårdcentralen besteht. Zu wenige Ausbildungsplätze sind die Hauptursache. Die Ausbildungskosten für einen Arzt sind im Vergleich zu anderen Studiengängen sehr hoch. An diesen Kosten spart Schweden und wirbt lieber Ärzte aus dem Ausland an. Inzwischen haben 20 % der Ärzte im Ausland studiert. Schweden hatte in Polen ein eigenes Büro betrieben um polnische Ärzte anzuwerben. Darauf hatte sich Polen offiziell bei den Schweden beschwert, da Polen selbst unter einem Ärztemangel leidet. Auch besteht ein Mangel an Krankenschwestern auf Grund einer zu geringen Vergütung. Nicht selten kündigen alle Krankenschwester einer Abteilung in einem solidarischen Akt, um mehr Lohn durchsetzen zu können.
Nicht alle Krankenschwestern sind männlich. Eine Eigenart der schwedischen Sprache ist, dass selbst für männliche Krankenpfleger die offizielle Berufsbezeichnung Krankenschwester (sjukskörterska) lautet. Der geschlechtliche Gleichstellungsgedanke ist nicht nur konsequent sondern auch unkonventionell in seiner Ausdrucksweise umgesetzt. Der entsprechende Gedanke gilt auch für den Arzt (läkare). Es gibt entweder weibliche oder männliche Ärzte aber keine Ärztinnen. Dies vereinfacht die Sprachregelung wesentlich.
Ein Arzt eines Behandlungszentrums sollte laut Vorgabe nicht mehr als 1500 Patienten betreuen. In vielen Provinzen liegt der Durchschnitt allerdings bei 2400 Patienten, weil ausgeschriebene Stellen nicht besetzt werden können. Ein verantwortungsvolles Arbeiten erscheint vielen Ärzten und Krankenschwestern nicht mehr möglich. Die Folgen sind ein schlechtes Arbeitsklima und vermehrte Kündigungen. Die unbesetzten Stellen werden nun von angemieteten Ärzten als Lückenfüller besetzt, welche auch Stafettenärzte genannt werden. Sie ziehen nämlich nach einer Weile zum nächsten Arbeitsplatz weiter, bevor sie sich in die besonderen Bedürfnisse der Patienten einarbeiten konnten. Eine ständige Fluktuation von Stafettenärzten, benachteiligt wiederum das Arbeitsklima, womit ein Teufelskreis beginnt, von dem besonders die Behandlungszentren der ländlichen Gebiete mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte betroffen sind.
Das angemietete Personal ist zudem teuer. Es verursacht fast doppelt so viele Lohnkosten im Vergleich zu den Festanstellungen. Dabei sind viele dieser Ärzte bei Personalbeschaffungsfirmen fest angestellt, die ihre Ärzte an die Behandlungszentren vermieten.
Dieses Prinzip ist in der schwedischen Industrie üblich. Viele größere Betriebe haben 1/5 ihrer Betriebswirte, Ingenieure und Techniker über Personalbeschaffungsfirmen angemietet, um auf Auftragsspitzen und einem Nachfragerückgang flexibel reagieren zu können. Das angemietete Personal arbeitet allerdings in der Industrie über Jahre am gleichen Arbeitsplatz. Oft erhalten sie nach einigen Jahren eine Festanstellung, wenn sie dies überhaupt wollen. Ein Industriebetrieb hätte bei einer hohen Fluktuation an angemieteten Arbeitskräften früher oder später ein Kosten- und Qualitätsproblem, womit es seine Wettbewerbsfähigkeit verliert und irgendwann vom Markt verschwindet.
Diese den Markt regulierenden Effekte funktionieren im Gesundheitswesen leider nicht ohne weiteres. Wer auf dem Land lebt, hat keine Auswahlmöglichkeit, da sich im weiten Umkreis nur das von der öffentlichen Hand geführte Behandlungszentrum befindet. Viele Pensionäre zieht es auch deshalb in die Stadt. Sie ziehen im Alter üblicherweise aus ihrem eigenen Häuschen im Grünen in eine kleine Mietwohnung und verkaufen ihr Auto.
In den Städten und dichter besiedelten Gebieten Schwedens etablieren sich immer mehr privatwirtschaftlich geführte Behandlungszentren. Der Patient kann sich nun aussuchen, welche Behandlungszentren er wählen möchte. Für den Besuch eines privat geführten Behandlungszentrums ist keine private Zusatzversicherung nötig. Die meisten privaten Behandlungszentren verlangen von ihren Patienten auch denselben Eigenanteil, welcher die von den Provinzverwaltungen geführten Behandlungszentren verlangen.
Die Arbeitsplätze der privat geführten Behandlungszentren werden als attraktiver angesehen. Entsprechend weniger unbesetzte Stellen haben sie zu füllen. Dies liegt nicht an einer höheren Entlohnung, sondern an einem besseren Arbeitsklima, einer besseren Arbeitsorganisation, einer höheren Eigenverantwortung und höheren Qualitätsstandards. Nach einer gewissen Zeit können die Mitarbeiter als Miteigentümer Betriebsanteile übernehmen, was die Bindung zum Arbeitsplatz und die Identifikation mit dem Betrieb fördert.
Leider ist die Marktwirtschaft kein Allheilmittel im Gesundheitswesen. Private Behandlungszentren etablieren sich überwiegend in den Ballungszentren und größeren Städten, jedoch nicht im chronisch unterversorgten Nordschweden, wo der Bedarf am dringlichsten wäre. Doch die ländlichen Gebiete Nordschwedens leiden seit Jahrzehnten an einer Entvölkerung. Die Menschen wandern in die Städte ab. Nur dort, wo die Bevölkerung wächst, entstehen auch neue private Behandlungszentren.
Ein Behandlungszentrum stellt für den Patienten allerdings nur die erste Anlaufstelle dar. Wer eine Ultraschall- oder Röntgenuntersuchung benötigt oder ein Facharzt braucht, muss auch in den Großstädten in der Regel ein Krankenhaus aufsuchen, und das ist fast immer eine Einrichtung der öffentlichen Hand. Lange Wartezeiten sind dann oft wieder die Regel. Bei ernsthaften Erkrankungen hat der Patient dann auch nicht viel gewonnen.
Eine private Zusatzversicherung oder eine Behandlung im Ausland als Ausweg: Wer finanziell gut ausgestattet ist und auf Operationen nicht lange warten möchte, kann sich an die wenigen schwedischen Privatkrankenhäuser richten. Alle, die dort ihre Operation aus eigener Tasche bezahlen, brauchen nur zwei Wochen auf seine Prostataoperation warten. Mit etwa 10.000 Euro ist man dabei. Was ist einem das eigene Leben wert, ist dann keine zynische Frage mehr. Es geht um den Überlebenswillen. Viele größere Unternehmen bieten für ihre Mitarbeiter Krankenzusatzversicherung an, mit denen die sich die Wartezeiten der Patienten drastisch verringern lassen, sofern man in der richtigen Firma arbeitet. Seit 2007 dürfen selbst die Krankenhäuser der öffentlichen Hand diese Privatpatienten zügiger behandeln. Seitdem hat sich die Zahl der privat Versicherten vervielfacht. Die bittere Pille davon ist, das dies im Gegenzug die Wartezeiten der Normalversicherten verlängert. Inzwischen (2014) besitzen schon eine halbe Million Schweden diese private Zusatzversicherung. Doch nicht alle werden sich dies leisten können. Auch widerspricht dies dem tief verwurzelten Gleichbehandlungsgedanken der Schweden, die einst so stolz auf ihr Gesundheitswesen waren, das alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Einkommen und ihrem Status gleich behandelt.
Eine weitere Möglichkeit die langen Wartezeiten zu umgehen, besteht darin sich im Ausland behandeln zu lassen. Die schwedische Krankenkasse übernimmt auf Antrag die Kosten bis zu der Höhe, die in Schweden anfallen würden. Wer keinen Antrag stellt geht in der Regel ein gewisses Risiko ein und erhält in der Regel ebenfalls die Kosten erstattet.
Wenn ausländische Urlauber in Schweden erkranken: Patienten aus der Europäischen Union, Lichtenstein und der Schweiz, welche sich vorübergehend in Schweden aufhalten, erhalten in Schweden immer eine Behandlung, wenn sie dringend erforderlich ist. Dies geschieht gegen eine Rechnung, welche bei der Krankenversicherung seines Heimatlandes einzureichen ist. Wer eine europäische Krankenversicherungskarte vorweisen kann, welche die heimische Krankenversicherung ausstellt, spart sich den Umstand mit den Rechnungen. Als Urlauber wendet man sich ganz einfach ohne Voranmeldung an das nächste Krankenhaus, die mit einem roten Kreuz ausgeschildert sind. Die meisten Ärzte können Englisch. Viele stammen sogar aus Deutschland. Bei jedem Notfall ist die 112 anzurufen. Englisch wird immer verstanden und oft stehen auch Dolmetscher für die deutsche Sprache zur Verfügung.
Wie lange wirst Du voraussichtlich noch leben? Viele Schweden denken sich nichts dabei, wenn sie einen genauen Terminplan einfordern, der sie für Überraschungen und Unwägbarkeiten schützt. Die meisten Schweden sind auch von dem Gedanken fixiert, das Unvorhersehbare sei der größte Stressauslöser. Ein unheilbar an Krebs erkrankter junger Mann beschloss die letzten Monate seines Lebens nicht im Krankenhaus zu verbringen, sondern zu Hause in seiner gewohnten Umgebung zu verbringen. Prompt wurde ihm von der Krankenversicherung die Lohnfortzahlung gestrichen, denn wer das Krankenhaus freiwillig verlässt, ist ja auch fit zum Arbeiten. So ist die Logik des Systems, die auf Grund der Aktenlage Entscheidungen fällt. Der junge Mann rief daraufhin die zuständige Sachbearbeiterin an, welche Verständnis für seine Situation zeigte, jedoch darauf bestand den möglichst genauen Zeitpunkt des voraussichtlichen Ablebens zu erfahren. Dieses Telefonat hatte eine große Welle der Empörung in der Öffentlichkeit ausgelöst. Wir alle wissen, dass wir sterben müssen, doch wollen wir nicht wissen wann. Einerseits verdrängt wie so viele westliche Kulturen auch die schwedische Denkweise den Tod. Andererseits strebt sie die perfekte Lebensplanung durch den Staat und das Individuum selbst an. Und eben dieses Telefonat hat zu einer Kollision dieser beiden sich widersprechenden Bestrebungen geführt. Schweden lässt sich nicht mit einem Wort begreifen oder mit den Maßstäben des übrigen Europas beschreiben. Vielleicht möchten die Schweden wie wir alle einfach nur gesund leben und irgendwann gesund sterben.
Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in Schweden um ein paar Jahre länger als in Deutschland. Mit Sicherheit liegt die Ursache dafür neben einer sehr geringen Kindersterblichkeit in einem hohen Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung. Schweden hat einen sehr geringen durchschnittlichen Alkoholkonsum und immer weniger Menschen rauchen Tabak. Ganz ehrlich betrachtet, spornt mich das schwedische Gesundheitssystem auf vielfältige Weise dazu an, pfleglich mit meinem Körper umzugehen.
Wer alt ist, chronisch krank ist oder sonst gesundheitlich angeschlagen ist, sollte im schwedischen Sozialstaat nicht gerade in die nordschwedische Einsamkeit ziehen, auch wenn die Hauspreise dort so unschlagbar günstig sind und die Natur mit ihren Verlockungen reizt.
Besser ist es viel Geld zu besitzen. Mit richtig viel Geld lässt es sich auch im Großraum Stockholm gut leben. Dort gibt es auch sehr nette Einfamilienhäuser in phantastischer Lage, allerdings ab 10 Millionen Kronen. Es gibt nicht weit weg vom Wohnort privat geführte Behandlungszentren, die um ihre Patienten werben. Es stehen zudem private Krankenhäuser zur Verfügung – mit kurzen Wartezeiten, falls eine private Zusatzversicherung vorgewiesen werden kann. Und wer sehr viel Geld hat und alles aus eigener Tasche bezahlen kann, fliegt einfach von Stockholmer Flughafen Arlanda direkt in die USA. Dort bietet das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gegen Geld jede erdenkliche Behandlung.
Dass zwischen Geld und Gesundheit ein Zusammenhang besteht, haben wir doch schon immer geahnt.
Fazit: Man sollte in Schweden gesund bleiben und besonders am Wochenende nicht krank werden. Im Jahr 2017 hat sich die Situation eher verschlimmert. Eine Notaufnahme in Stockholm berichtete von 24 Stunden Warteizeit. Da Hebammen knapp sind, wurden Geburten schon in das benachbarte Finnland verlegt. In Nordschweden gibt es gut besuchte Kurse, die einem die Geburt im Auto beibringt. Unser Zahnarzt musste wegen Krankheit aufgeben. Jetzt müssen wir zum nächsten Zahnarzt, der Patienten aufnimmt, 40 km zur Nachbarstadt fahren.